Laufen als Therapie

Die perfekte Zeitmaschine – Laufen mit Musik

Laufen als Therapie

Die Arbeit nervt. Nichts läuft wie es soll. Das Wetter könnte auch besser sein. Der Verkehr ist zum Kotzen. Zuhause liegen unendlich viele Sachen, die locker als groß angelegte Studie zum Thema Prokrastination durchgehen würden. Die Lust auf Sport tendiert gegen Null. Der Hund ist verletzt, der menschliche Laufkumpane ist verhindert. Solche Tage sollten direkt nach Beginn beendet werden. Leider weigern sich die meisten solcher Tage, ein leidlich gutes Ende zu nehmen. Um so cooler, wenn an einem solchen Tag die Entdeckung einer nach heutigen Kenntnisstand der Physik eigentlich unmöglichen Maschine gelingt: Der Zeitmaschine!

Echte Scheißtage

Lustlos und unmotiviert fuhr ich mit einer Ruhe, die höchstens noch von einem Bombenentschärfungskommando hätte übertroffen werden können, nach der Arbeit in Richtung Zuhause. Mir wollte einfach keine Ausrede einfallen, mit der ich einen Trainingsausfall mir selbst gegenüber hätte rechtfertigen können. Verdammte Scheiße! Ein weiterer Punkt, der an diesem Tag einfach nicht gelingen wollte. Überfahren will mich auch keiner. Pfff. So ein Mist.

Natur genießen, den Flow erleben

Jammern und klagen lässt die mangelnde Lust nicht verschwinden, es erleichtert das Leiden. Mehr nicht! Mit einem Gesicht, als hätte man mir ohne Betäubung einen Weisheitszahn gezogen, pelle ich mich Stück für Stück in die Laufsachen. Seit langem laufe ich ohne Musik. Einfach, um mal ohne Geräuschkulisse zu sein. Natur genießen, den Flow erleben, die Ruhe fühlen usw… blablabla. Doch an diesem Tag nicht. Der MP3-Player (unnötig zu sagen, dass es ein iPod Shuffle ist, oder?) blitzt mich aus der Krimskramskiste an. Ich denke kurz und angestrengt nach (eigentlich ist nachdenken immer anstrengend) und mir will einfach nicht einfallen, welche Tonkonserve von mir in den Flashspeicher gemeißelt wurde. Kurzer Sound-Check! Die In-Ears müssen bis zum Trommelfell ins Ohr geschoben werden. Dann stellt sich gleich das Gefühl wie früher im Schulsprachlabor (ich spüre ein leichtes Zittern im Arm und habe schon das Gefühl, in der Zeit zurückversetzt zu sein) ein. Quasi ein schalltoter Raum zum mitnehmen. Geil! Bis die ersten Klänge ertönen, höre ich nur meinen rasselnden Atem und das grummeln im Gedärm. Achja, da war ja noch was. Ich lasse der Natur also ihren Lauf (macht mich auch schneller, weniger Gewicht) und klicke mich durch den iPod. Eigentlich scheiße, dass er kein Display hat. Naja, dauert ja noch.

Vom Blitz getroffen

Dann höre ich die ersten Takte von Rebel Yell und fühle mich wie der Baum, der vom Blitz getroffen wird. Bäääähm. Die „VH1 Storyteller“ Live von Billy Idol. Geil. Meine Laune hat sich soeben um wenigstens 25% verbessert.
Ab in die Schuhe und los geht es. Gepflegte 15 km sollen es werden. GPS starten, Nike Fuelband starten und los. Stopp. Die Billy Idol möchte ich doch ganz hören. Während ich mich in das Album einhöre, übernehmen meine Füße die Arbeit und spulen jeden Meter routiniert ohne mein bewusstes zu tun ab. Schon bei den ersten Klängen des zweiten Songs fühle ich, wie mein Gehirn beginnt Serotonine auszuschütten. Beim dritten Song haut es mich dann echt weg. Flash!!! Flesh for Fantasy. 1.21 Gigawatt. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Aus heiterem Himmel muss ich an die alte Clique und unzähligen Discobesuche, bei denen dieses Lied gespielt wurde, denken.

Sony Walkman mit organgefarbenen Ohrpolstern

Mittlerweile sind die ersten 4 km geschafft. Der Kopf leert sich (ja noch leerer als sonst), ich lasse mich vom Beat motivieren und kann mich eigentlich nur noch auf die Songs konzentrieren. A nice day for a white wedding? Ich kann mich erinnern, früh morgens mit den ersten Sonnenstrahlen auf dem nach Hause Weg gewesen zu sein. Mit meinen blauen Sony Walkman, mit orangefarbenen Ohrpolstern, hörte ich genau diesen Song. Geil! OK, der Sound war verglichen mit Heute ein echter Alptraum. Leiernde Kassetten. Andauernd leere Batterien. Die Kopfhörer sahen scheiße aus und waren auch laufend kaputt. Trotzdem: Geil!

Nahtoderfahrung

So fresse ich Kilometer für Kilometer in mich hinein und muss bei vielen Songs auf der Scheibe unwillkürlich grinsen. Eine Anekdote nach der anderen fällt mir wieder ein. Ob es der Sauerstoffmangel durch die Lauferei ist? Kurz bevor der Tod eintritt, soll ja nochmal das ganze Leben vor dem inneren Auge ablaufen. Mist, ist es soweit? Okay. Was soll’s. So soll es. Salü mit ü. Das wars. Danke für den Fish. Ich bereue nichts. Oh, es geht noch weiter. Das helle Licht war nur die Sonne. Scheinbar stimmt es, dass in der Pubertät, im Rausch der Hormone, synaptische Verknüpfungen erstellt werden, die beim kleinsten Reiz von außen eine entsprechende Assoziation an die ursprüngliche Begebenheit hervorrufen. Flash-Back ist wohl der Fachausdruck. Und das funktioniert perfekt. Für mich war das  Album eine Offenbarung. So macht laufen und erinnern Spaß.

Ich freue mich schon auf die nächste Zeitreise. Ob ich da wohl eine Kuschelrock einlege? Oder Rick Astley? *grins*