Schöne neue Welt. In scheinbar längst vergangenen Zeiten, als Wissen noch Vorsprung bedeutete, war die Welt noch in Ordnung. Mit immer effektiveren Werkzeugen Wissen verfügbar und vor allem auffindbar zu machen, wurde es immer einfacher, sich zu bestimmten Fachgebieten profunde Grundkenntnisse anzueignen. Das Wissen und Kennen von Fakten hat leider nichts mit Können zu tun. Nur versteht das niemand mehr. Der Spruch „Große Klappe und nichts dahinter“ ist wahrer den je.
Immer mehr Pseudofachleute halten sich für große Diagnostiker alla Dr. House, nur weil sie es geschafft haben, in Google oder beim Netdoctor eine vermeidliche korrekte Diagnose zu stellen. Wie groß muss die Enttäuschung sein, wenn diese Doktoranden in Spee feststellen müssen, dass sie keinen Kehlkopfkrebs haben, sondern nur unter den Nebenwirkungen des Genusses zweier Schachteln Zigaretten pro Tag leiden. Selbst wenn der echte Arzt alle Bedenken argumentativ beseitigen kann und die richtige Diagnose mit Laborergebnissen untermauert, bleibt bei diesen vermeidlichen Profis ein letzter Funken Zweifel. Kaum aus dem Sprechzimmer des Arztes entschwunden, wird Google bemüht, um einen richtigen Arzt zu suchen. Schließlich hatte der letzte Quacksalber keinen blassen Schimmer von seinem Handwerk. Rauchen soll die Ursache für das Kratzen im Hals sein? Blödsinn. Google sagt Kehlkopfkrebs und der Netdoktor auch. Wer dann die Selbstdiagnose im Konsil bestätigt haben möchte, bemüht einfach „Gute Frage“ oder andere Plattformen. Das macht man so lange, bis man eine Website findet, welche die eigene Meinung bestätigt. Zack, schon wieder Recht gehabt. Kommt einfach von der enormen „Ahnung“, die diese Digital-Hypochonder von allem haben!
Profis in allen Bereichen
Das quer lesen eines Wikipedia-Eintrags lässt heute viele glauben, auf dem entsprechenden Themengebiet ein Profi zu sein. Natürlich wird dabei nicht geprüft, ob der Wiki-Eintrag korrekt ist oder eventuell konträre Meinungen zu finden sind. Das gerade erworbene „Fachwissen“ ist sofort Paradigma für das eigene Leben. Eigene Erfahrungen spielen keine Rolle. Fremderfahrung, Fähigkeiten und Kenntnisse sind profunder Ersatz für eigenes Können. Sicherlich ist der Spruch „Lesen bildet“ korrekt und in grauer Prä-Internet-Zeit war Wissen auch ein Vorsprung. Heute steht Wissen unbegrenzt und jederzeit zur Verfügung. Doch dieses Wissen ist leider nichts Wert, ohne Fähigkeit es zu verstehen und auch anwenden oder sogar auf andere Probleme übertragen zu können. Das scheinen viele vermeidliche Fachleute einfach nicht verstehen zu wollen oder zu können.
Das Beispiel oben kann beliebig geändert werden. Eltern, die plötzlich zu Pädagogen werden und genau wissen, wie ihre Brut zu erziehen ist. Hausfrauen, die aus heiterem Himmel Sanitärinstallateur oder Fliesenleger sind. Fußballfans, die mit dem Mund alles besser können, während sie eine Weizenwampe von den Ausmaßen eines kleinen Planetoiden vor sich herschieben.
Rennfahrer und Stuntpilot
Erstaunlicherweise macht dieses „Ich bin Profi“ vor keiner Berufssparte halt. Da werden Fahrlehrer plötzlich echte Rennfahrer. Es wird einem der sprichwörtliche Fehdehandschuh links und rechts um die Ohren geknallt mit den Worten: „Ich zieh dich ab, du hast keine Chance. Weißt du wie viel Kilometer ich schon mit dem Motorrad gefahren bin?“. Ganz besonders hier zählt nicht das Wissen, sondern das Können (nur zur Info). Zu wissen, wie man mit Knie am Boden um die Kurve zirkelt ist das eine, es zu tun, das andere. Mit 100.000 Kilometern Tourenfahren gelingt das jedenfalls nicht. Zu sehen und zu lesen, wie jemand mit Knie am Boden um eine Kurve fährt bedeutet nicht, dass man es selber kann. Zum Glück fallen solche Luftpumpen nach der ersten Kurve auf, nein, auf die Fresse.
SEO-Fachleute und Profi-Website-Betreiber
Gerne lassen die vermeintlichen Fachleute im IT-Bereich immer wieder den Fachmann raushängen. Nur weil man mit Google nach Informationen sucht, ist man kein SEO-Profi. Dazu gehört dann doch ein wenig mehr. Insbesondere wenn es um den Relaunch großer Projekte geht, melden sich plötzlich die vermeintlichen Profis zu Wort. Da wird großzügig entschieden, dass der generierte Traffic nicht so wichtig ist, wie eine geile Seite. Selbst mit Analogien kann man diese Leute dann nicht beschwichtigen. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass es nicht reicht, eine gut aussehende Seite zu erstellen. Ich vergleiche Websites gerne mit lokalen Geschäften. Wenn ich ein neues Ladenlokal eröffne, es innen und außen auf Vordermann bringe, dann die Fenster mit Pappe verklebe und die Türen verschließe und mich wundere warum kein Kunde kommt, dann ist das genau das gleiche Szenario wie beim Relaunch einer Website ohne SEO. Ich kann nicht alle Straßen abreißen die zur Site führen und hoffen, dass schon irgendjemand über den Acker durch den alten Tunnel aus dem Mittelalter zu mir kommt. Hier hilft auch nur wieder echtes Können. Jeder der weiß, wie Google reagiert, kann durch jahrelange Erfahrung Trafficverluste bei größeren Umbaumaßnahmen an der Website vermeiden oder zumindest einschränken. Traffic ist eine grundlegende Voraussetzung für eine Website, die gut konvertiert. Analogie: Wer keine Kunden in das Ladengeschäft bekommt, hat keine Chance, etwas zu verkaufen. Wenn niemand da ist, kann auch niemand etwas kaufen. So verhält es sich auch bei einer Website. Je mehr Besucher eine Seite hat, umso größer ist die Chance, einen Sale oder Lead zu generieren. Stichwort: Lockangebote – Sie haben nur die Aufgabe, eine möglichst große Menge Kunden ins Geschäft zu locken, um ihnen eventuell noch etwas neben dem Angebot verkaufen zu können.
Journalisten und Autoren
Schreiben kann nicht durch lesen erlernt werden. Viele Menschen schreiben heute Texte und veröffentlichen diese. Viele glauben, ihre Texte wären gut und lesbar (ich schließe mich hier bewußt ein). Leider ist das eine Selbsttäuschung. Lesen hilft in diesem Fall einen ordentlichen Grundwortschatz aufzubauen. Wie dieser dann in eine eloquente und unterhaltsame Schreibweise umgesetzt wird, kann wieder nur die Erfahrung und das Können zeigen. Wer nicht selbst schreibt und Feedback aus seiner Umgebung in die nächsten Texte einfließen lässt, der wird immer glauben, er wäre reif für den Pulitzerpreis, obwohl die Texte sich lesen wie das geistige Abfallprodukt eines volltrunkenen Finanzbeamten.
Sänger und Entertainer
Das Talent das Erlernen einer Sache erleichtert, ist hinreichend bekannt und belegt. Wer völlig talentfrei ist und durch permanentes Üben einer Sache meisterhaft wird, unterscheidet sich in keinster Weise vom Virtuosen, der nur wenige Stunden mit üben verbracht hat. Das Ergebnis ist das gleiche. Wenn die talentbefreite Person anderen beim üben zuschaut, kann man zu 100% davon ausgehen, dass diese die Fähigkeit nicht erlernt. Wenn ich durch blosses zuhören hätte Sänger werden können, dann wäre ich jetzt wohl schon in Rente. Keine Ahnung wieviel Doppelzentner 2xA Batterien durch meinen Walkman leer geschlürft wurden. Meiner Gesangskarriere hat es jedenfalls nicht geholfen. Zuhören ist das eine, selber singen das andere. Tausende von Videos belegen perfekt: Zu wissen, dass man singt und wie andere singen macht einen nicht selbst zum Sänger.
Fazit: Wissen ist nicht gleich Können. Können entsteht aus der praktischen Anwendung des Wissens in Verbindung mit primären Erfahrungen. Je mehr Wissen und Erfahrungen in der ersten Person angesammelt werden, umso größer wird das daraus resultierende Können sein. Der Spruch „Wissen ist Macht“ hat seinen EOF (End of Life) erreicht.